Winterpost 2024

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Über Stolpersteine auf den Wegen der Achtsamkeit



Achtsamkeit ist von dem Paliwort „Sati“ abgeleitet, das ursprünglich „Erinnerung“ heißt. Pali ist eine altindische Sprache, in der die ersten buddhistischen Schriften aufgeschrieben wurden. Sati ist das klare, gleichmütige und zugewandte Wahrnehmen des Lebens in einem beliebigen Moment und hat aus meiner Sicht drei Aspekte.


1.    Die Erinnerung an die Erfahrung der Gegenwart, ohne diese Erfahrung als gut oder schlecht zu bewerten.


2.   Die Erinnerung daran, das zu tun, was uns selbst und anderen Lebewesen guttut. Und uns daran erinnern, Dinge zu unterlassen, die uns selbst und anderen schaden.


3.    Die Erinnerung daran, dass wir „schon da“ sind – oder anders ausgedrückt: Sich daran zu erinnern, aufzuwachen und zuzulassen, dass sich das Bewusstsein quasi im Spiegel anschaut.


Der erste Aspekt erinnert uns an das „Hier und Jetzt“ und hilft uns, uns zu fokussieren bei dem, was wir tun, ohne uns von unserem Stresssystem (Angst / Ärger) oder von unserem Antriebssystem (Haben Wollen / Sehnsucht) ablenken zu lassen.

 

Der zweite Aspekt erinnert uns an unseren ethischen Kompass. Daran, ob unsere Taten für uns UND andere Lebewesen positive oder leidvolle Konsequenzen haben.


Der dritte Aspekt erinnert uns an unsere Verbundenheit mit allen und allem. Das ist schwer auszudrücken, aber im Erleben ganz einfach. Bewusstsein staunt über sich selbst. Der Tropfen bemerkt, dass er nicht vom Ozean getrennt ist, weil er zu 100% aus Ozean besteht.


Meiner Meinung nach müssen diese 3 Aspekte alle vorhanden sein und in einer Achtsamkeitsmeditation, die den Namen verdient, auch verstanden und geübt werden. Zwar kann man in der Praxis bestimmte Aspekte stärker gewichten, sollte aber aufpassen, dass das nicht auf Kosten der anderen geschieht, sonst kann hier einiges aus der Balance geraten.


Stolperstein 1


Geht es z.B. nur um das „Hier und Jetzt“, können wir mit entsprechenden Konzentrationstechniken alles sehr fokussiert tun und „blenden alles aus, was nichts mit dem Hier und Jetzt zu tun hat“ (Joschka Breitner im Film). Oder (ebenfalls Filmzitat): „Wie ein himmlisches Strahlen aus den schwarzen Wolken meiner Seele spürte ich eine völlige Ruhe“. Klingt doch gut, oder? – Ist es auch. Sehr viele Menschen verstehen unter Achtsamkeit aber leider nur diesen Teil. Sie wollen nur ein Tool haben, um weniger Stress und mehr Ruhe zu erleben, damit sie frei und effektiv alles tun können, was sie wollen. Und wenn es ein Bankraub oder Mord ist, dann geht das viel besser mit diesem Aspekt der Achtsamkeit.  


Stolperstein 2


Kommen wir nun zum ethischen Kompass. Wenn hier nicht beide Teile verstanden und geübt werden (an sich selbst und andere denken), kann auch einiges aus dem Ruder laufen. Manche wollen nur den ersten Teil kultivieren: Ich will endlich lernen, auf meine Bedürfnisse zu achten und für mich selbst zu sorgen. Auch das ist doch toll, oder? Du nimmst Dir „Zeitinseln“ (Joschka Breitner), kümmerst Dich um Dich und Deine Liebsten, nimmst Dir „Me-Time“. Aber: Wenn Du die Anderen und die Welt vergisst, wird die Meditationspraxis nur zu einer weiteren Egonummer. Leider wird Achtsamkeit von der Wellnessindustrie oft genauso verkauft, nämlich als Methode der Entspannung, Selbstaktualisierung und Selbstoptimierung. Das bläst aber nur das Ego noch mehr auf (und das Konto der Anbieter), und aufgeblasene Egos haben wir wahrhaftig genug. Diese Form der Selbstoptimierung ist auch nicht das gleiche wie Selbstmitgefühl, auch wenn sie so verkauft wird. Ein großes Thema, vielleicht für ein anderes mal.


Stolperstein 3


Die nächste Falle lauert, wenn wir den zweiten Teil des ethischen Kompasses auf Kosten des ersten dauerhaft überbetonen, also wenn wir das Wohl der anderen mehr im Blick haben als das eigene. Aber wer nur an die anderen oder die Rettung der Welt denkt und sich selbst vergisst, geht den „achtsamen“ Weg ins Burnout.


Eine Kompassnadel hat immer zwei Pole, den Nord und Südpol. Der ethische Kompass hat eine Nadel aus Mitgefühl, die auf die anderen bzw. die Welt zeigt und auf sich selbst. Selbstmitgefühl und Mitgefühl mit anderen sind untrennbar aus meiner Sicht. Es ist gut, wenn es Menschen gibt, die für andere auf ihr eigenes Glück verzichten können, die vielleicht sogar für ihre Liebsten ihr eigenes Leben riskieren, um sie zu schützen. Aber um das überhaupt machen zu können, müssen sie sich erinnern, dass ihre körperlichen und seelischen Ressourcen nicht unerschöpflich sind, und dafür sorgen, sie aufzufüllen, so gut es eben geht. So sehe ich das jedenfalls.


Stolperstein 4


Der nächste Stein, über den manche Menschen stolpern, wenn sie auf den Kompass schauen, ist Ignoranz. Sie finden den Kompass einfach nur schön. Es ist aber viel unbequemer und vor allem komplizierter, ihm auch zu folgen. Es ist leicht, allen Wesen Frieden und Glück zu wünschen. Aber was heißt das z.B. für die Ukrainer:innen, denen seit 3 Jahren ein Krieg aufgezwungen wurde, den sie nicht wollten? Viele Populisten drücken diesen Ignoranzknopf aus meiner Sicht. Eine deutsche Partei hatte als Wahlkampfslogan: „Frieden wählen!“. Wollen alle, ist doch klar. Aber der Krieg geht nicht weg, indem ich ihn ignoriere, wegwünsche, oder jemanden wähle, der sagt, er mache ihn weg, ohne zu sagen, wie er/sie das machen möchte. Das ist heute meine Meinung, die ich nicht immer hatte. Früher war ich Pazifist und Kriegsdienstverweigerer und habe mir, ehrlich gesagt, ziemlich viel darauf eingebildet und habe Soldaten verachtet. Heute bin ich froh, dass es eine Bundeswehr gibt und habe großen Respekt für die Soldat:innen, die dort dienen. Wohin zeigt Deine Kompassnadel, wenn Du in die Welt schaust? Was kannst Du für Dich selbst tun, um stark genug zu werden, um den Blick in die Welt überhaupt auszuhalten?


Nun geht es zum spirituellen Aspekt der Achtsamkeit. Auch hier kann man stolpern. In den spirituellen Traditionen ist dieser Aspekt oft der wichtigste. Satori / Nirvana / Moksha / Unio mystica / Gotteserfahrungen / das ewige Dao / die Auflösung des Egos / reines Bewusstsein / universelle Liebe / Leere und Fülle – alles große Worte, die in diese Richtung zeigen und verwirrend klingen. (In „Achtsam Morden“ wird dieser Aspekt natürlich komplett ignoriert, sonst würde der Plott nicht funktionieren)


Stolperstein 5


In der Schwierigkeit, solche Einheitserfahrungen zu erklären, liegt aus meiner Sicht auch schon das größte Problem: Weil hier die Worte fehlen, glauben viele, dass es sowas nicht gibt, oder, wenn doch, dass nur die Yogis in den Höhlen des Himalayas nach 40 Jahren hardcore Meditation dorthin kommen könnten. Für uns Normalos erscheint das unerreichbar, daher versuchen wir es erst gar nicht. Das ist sooo schade, denn das „Reine Bewusstsein“ ist bereits immer schon da, genauso wie das Wasser im Ozean schon da ist. Wir schwimmen darin herum wie Fische, die nach Wasser suchen. Statt zu verstehen, dass wir dort aufwachen können, wo wir schon sind, suchen wir woanders, oder suchen erst gar nicht und schlafen weiter.

Aber es gibt Hoffnung. In letzter Zeit versuchen mehr und mehr Philosophen und Bewusstseinsforscherinnen, die selbst meditieren, zeitgemäße Worte zu finden, die das reine Bewusstsein beschreiben könnten. Thomas Metzinger ist einer davon. Ein gutes Buch dazu ist sein 900 Seiten Wälzer „Der Elefant und die Blinden“ in dem er tausende von Meditierenden aus 57 Ländern gefragt hat, wie sie die Erfahrung des reinen Bewusstseins beschreiben würden. Hier ein Gespräch von Gerd Strobel mit Thomas Metzinger: https://www.youtube.com/watch?v=JO9J9eFaqvA


Stolperstein 6


Die nächste Falle, die sich hier auftut, ist das sogenannte „spirituelle bypassing“. Das passiert, wenn Leute tatsächlich mit diesen Bereichen vertraut werden und darin eine große Freiheit und Klarheit erleben, diese aber dazu benutzen, um vor den weltlichen Problemen wegzulaufen. Diese Menschen haben kein Problem, regelmäßig mit Gott eine Tasse Tee zu trinken, bleiben aber in der Welt die gleichen Neurotiker wie vorher auch. Manche blasen sogar mit ihrer Erleuchtungserfahrung ihr Ego auf: „Das getrennte Ich ist nur eine Illusion, ICH weiß es jetzt“, und werden womöglich zu Meditationslehrer:innen. Es reicht aber nicht, aufzuwachen, man muss schon auch die weltliche Seele aufräumen. „After the Ecstasy – the Laudry“, wie ein Buch von Jack Kornfield heißt. Allerdings können diese mystischen Erlebnisse stark dazu ermutigen, sich auch auf der psychologischen Ebene um Heilung zu bemühen. Und umgekehrt genauso. Ein stabiles, starkes, gesundes Ich kann viel leichter in die tieferen Schichten des Bewusstseins eintauchen. Du musst erstmal ein Ich haben, bevor Du es loslassen kannst.


Stolperstein 7


Ein weiteres Problem auf diesem Gebiet sind mögliche Verwechslungen von Meditationszuständen mit neurotischen oder dissoziativen Zuständen. In der Meditation können durchaus schwierige Zustände auftauchen, das gehört zum Weg dazu, auch bei psychisch gesunden Menschen. Diese Zustände werden in den entsprechenden Traditionen auch beschrieben (die dunkle Nacht der Seele in der christlichen Mystik / die Dukkha- Ñanas in der Vipassana-Tradition etc.). Da es hier Verwechsungsgefahren gibt, sollten Menschen, die sich in schweren Krisen befinden oder zu Psychosen neigen, sehr behutsam und nicht alleine auf dem Weg der Achtsamkeit vorangehen. Ein Schweigeretreat kann dann eine Überforderung sein und die Symptome sogar verschlimmern, vor allem, wenn die Anbieter mentalen Druck aufbauen, um die Yogis in Meditationszustände zu pushen, wie es in den 10-Tage-Retreats nach Goenka aus meiner Sicht der Fall ist. Die meisten psychischen Krisen treten in genau dieser Tradition auf und sehr viel seltener in Vipassana-Retreats, wo den Yogis mehr Freiheit zugestanden wird (meine Wahrnehmung).


Um gut mit schwierigen Zuständen umgehen zu können, brauchen wir Wegbegleiter:innen, mit denen wir uns austauschen können. Es müssen nicht unbedingt „Meditationslehrer“ sein, das Lehrer-Schüler-Verhältnis birgt ganz eigene Gefahren, die zu Projektionen oder Machtmissbrauch führen können. Ich persönlich halte es für viel wichtiger, sich ein paar Menschen zu suchen, mit denen wir auf Augenhöhe über unsere Praxis sprechen können.

Wenn unsere neurotischen Anteile tatsächlichin in den Vordergrund rücken, sollten wir uns evtl. therapeutische Hilfe suchen. Ideal wären natürlich Therapeut:innen, die sich auch mit Meditation und spirituellen Krisen auskennen. Leider gibt es noch sehr wenige davon, weil es dafür eine tiefe Meditationspraxis braucht. Andererseits gibt es auch leider noch manche „Meditationslehrer:innen“, die sich mit psychischen Krisen wie Depressionen / PTBS / Flashbacks / Ängsten / etc. kaum auskennen und glauben, Meditation wäre eine Art Allheilmittel.

Wie dem auch sei: Spirituelle und psychische Krisen sind kein Versagen! Wer tief in den Ozean des Bewusstseins eintaucht, wird Fischen begegnen, die er/sie bisher noch nicht gesehen hat oder nicht sehen wollte. Wenn Du sie kennengelernt hast, brauchst Du keine Angst vor ihnen zu haben.

Und wenn Du regelmäßig übst und tiefer in das Bewusstsein eintauchst, wirst Du immer mehr bemerken, dass es gar keinen Grund gibt, vor Dir selbst, dem Leben und der Welt Angst zu haben. Das ist jedenfalls meine Erfahrung, und ich bin mir sicher, das gilt auch für Dich. Ich finde, das ist sehr ermutigend.

In diesem Sinne – eine schöne Zeit

Herzliche Grüße

Lothar


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